Meine Taktik ging auf: schätze einen Mann jünger als er ist und er frisst dir aus der Hand. OK, hätte ich Käsekuchen darin, würde er es auch ohne Komplimente machen: Christian von Familienbetrieb. Der jung gebliebene Herr hat sich für mich Gedanken gemacht, wie das denn so war mit dem 30 werden.
30 Fast 40 Jahre und kein bisschen weise
Vor ein paar Tagen kontaktierte mich Bella auf Twitter. Anlässlich ihres bevorstehenden Geburtstags plane sie eine Themenwoche über den Wechsel von den Zwanzigern in die Dreißiger. Wie das bei einem war, welche Pläne und Erwartungen man hatte und wo man in den Dreißigern sein wollte und so weiter.
Um ehrlich zu sein, fand ich das Thema zunächst nur mäßig inspirierend. Dann schrieb Bella aber, als knapp um die 30-jähriger sei ich doch geradezu prädestiniert für einen aufschluss- und lehrreichen Beitrag zu dem Thema. Das schmeichelte mir als fast 40-jähriger selbstverständlich sehr und ich sagte ohne zu zögern zu. Möglicherweise handelte es sich um eine sorgsam ausgeklügelte Taktik Bellas, um mich zur Teilnahme an ihrer Themenwoche zu bewegen. Wahrscheinlich war sie einfach an der Perspektive des Dorf-Methusalems im Familienblogger-Clan interessiert. Ist mir egal. Wenn eine zehn Jahre jüngere Frau dich auf knapp 30 schätzt, sagst du ja. Egal, was die Frage war. Was war nochmal die Frage? Ach ja, wie das mit meinem Dreißigsten war. Und mit meinen Plänen und Erwartungen.
Um es vorweg zu sagen: Ich hatte nie einen Plan, was mit mir in den Dreißigern sein soll. Schon als Jugendlicher hielt ich wenig davon, Pläne zu machen, wo einem das Leben ohnehin immer einen Streich spielen kann. Zum Beispiel durch das Ableben eines geliebten Menschen (zugegebenermaßen ein sehr böser Streich). Oder man gewinnt im Lotto und weiß plötzlich gar nicht, was man mit seinem ganzen Geld anfangen soll (eine zu bevorzugende schicksalhafte Wendung im Leben).
Ich hatte aber einen Schulfreund, der sich nach bestandenem Abitur vornahm, bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres, wie vom Volksmund eingefordert, ein Haus zu bauen, einen Baum zu pflanzen und einen Sohn zu zeugen. Lediglich die Reihenfolge war ihm egal. Mehr Plan geht nicht.
Tatsächlich baute er, bevor er 30 wurde, ein riesiges Einfamilienhaus. In seinen Garten pflanzte er einen Apfelbaum und der Sohn kam auch rechtzeitig vor Vollendung des dritten Lebensjahrzehnts. Er bekam sogar noch zusätzlich eine Tochter. Und beide Kinder waren blond. Mehr Bilderbuch-Familie geht nicht. Außer in Bullerbü.
Nun ist der Schulfreund 40. Er ist mittlerweile von seiner Frau geschieden, sieht seine Kinder nur noch jedes zweite Wochenende und das Haus musste er mit großem Verlust verkaufen (wahrscheinlich um den Scheidungsanwalt zu bezahlen). Der neue Besitzer hat sofort nach dem Einzug den Apfelbaum gefällt (zu viel Schatten, zu wenig Licht). Mehr Scheitern von Lebensplänen geht nicht.
Eine schöne Geschichte, oder? Okay, sie ist frei erfunden, liefert mir aber eine hübsche – obgleich grausam-zynische – Pointe, und unterstreicht außerdem meine Überzeugung, dass es sinnlos ist, Pläne zu schmieden.
Laut Chaostheorie – beziehungsweise laut meiner kreativen Auslegung selbiger Theorie – ist es möglich, dass ein Pavian-Pups im Senegal einen Tornado auslöst. Und am Ende fällt in China noch ein Sack Reis um. Wer will da noch Lebenspläne entwerfen. Wenn man sich dessen bewusst ist, hält man es am besten mit den Stoikern und akzeptiert das eigene Schicksal durch emotionale Selbstbeherrschung. Oder wie der Rheinländer sagt: „Et kütt wie et kütt.“ Mehr Fatalismus geht nicht.
Nun wenden die Leserinnen und Leser möglicherweise ein, dass ich mich weigere, Pläne zu schmieden, weil ich ein Problem mit dem Älterwerden habe. Mitnichten! Schon mit neun Jahren wollte ich älter werden. In erster Linie damit mir keiner mehr verbietet, das ‚Aktuelle Sportstudio‘ zu sehen. Da schickten meine Eltern mich nämlich immer ins Bett. Als ich dann alt genug war, um mir die Sendung anzuschauen, interessierte sie mich aber nicht länger. Aus gleichem Grund ernährte ich mich ab dem 18. Geburtstag auch nicht ausschließlich von Pommes und Cola, wie ich es noch als Neunjähriger anstrebte. Es hatte seinen Reiz verloren. Mehr Entzauberung von Kindheitsträumen geht nicht.
Mit meinem 18. Geburtstag verknüpfte ich hohe Erwartungen: Auto fahren, Wählen gehen und Schnaps trinken. Endlich erwachsen! Wenn man aber noch bei seinen Eltern wohnt, die Mutter für einen kocht und einem die Wäsche macht, fühlt sich das doch nicht so wahnsinnig erwachsen an. Da hilft auch kein Schnaps. Im Gegenteil.
Zum Zivildienst und Studium zog ich bei meinen Eltern aus und in weit entfernte Städte. Aber eigentlich war auch dort das Leben eher eine Simulation von Erwachsensein. Die größte Herausforderung bestand darin, keine der zahlreichen Partys zu versäumen und sich ausführlich dem anderen Geschlecht zu widmen. Mehr Postadoleszenz geht nicht.
Vor meinem 30. Geburtstag hatte ich keine große Angst. Ich stellte mir lediglich die Frage, ob ich jetzt endlich erwachsen war. Immerhin hatte ich einen Job, lebte seit acht Jahren mit meiner Freundin zusammen und wir hatten eine fast dreijährige Tochter. Ich zahlte also Steuern, leistete täglich meinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt, kümmerte mich um wichtige Beziehungsangelegenheiten („Wer ist dran mit Müll runterbringen?“) und war für einen kleinen Menschen verantwortlich. Mehr Erwachsensein geht eigentlich nicht.
Gleichzeitig war es aber mein größter Spaß, gemeinsam mit der Tochter riesige Türme aus Duplo-Lego zu bauen und es bereitete mir diebische Freude, diese krachend zum Einsturz zu bringen. Das war nicht ganz so erwachsen.
Mein anderes Lieblingsspiel mit der Tochter war „Schlafender Riese, der nicht geweckt werden darf“. Mir oblag dabei die Rolle des Riesens und die Tochter musste ganz leise sein, damit der Riese nicht aufwacht und sie frisst. Auch nicht so richtig erwachsen. Aber es gab mir Gelegenheit, mich regelmäßig ins Kinderzimmer zu legen und zehn Minuten zu dösen. Das war sehr schön. Und dieses Bedürfnis nach Mittagsschläfchen hat etwas sehr erwachsenes.
Jetzt bin ich fast 40. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie mein Vater 40 wurde. Insbesondere weil es wie aus Eimern schüttete und die lange im Voraus geplante Grillparty kurzerhand in die Wohnung verlegt werden musste. Ich war damals fast acht Jahre alt und fand meine Eltern und die Gäste alle unfassbar alt.
Mein Sohn ist nun ebenfalls acht Jahre alt und ich gehe davon aus, dass er und seine Freunde mich ebenfalls für steinalt halten. Wie so einen Jopi Heesters.
Ich selbst fühle mich gar nicht alt. In meinem noch einigermaßen fülligen Haupthaar gibt es fast keine grauen Strähnen. Allerdings kann ich nicht leugnen, dass mein Bart schon ziemlich weiß ist. Ich habe sozusagen einen Zweigenerationen-Kopf: Oben haust ein fideler Jüngling und unten herrscht ein seniler Rentner. Meine häufig wirren Äußerungen verstärken eher den greisenhaften Eindruck.
An einigen Dingen merke ich allerdings schon, dass ich allmählich älter werde. Zum Beispiel finde ich Konzerte, bei denen ich sitzen kann, zunehmend attraktiv. Noch attraktiver sind Konzerte, die ich mir auf DVD anschauen kann, ohne die Wohnung verlassen zu müssen.
Auch habe ich kürzlich mit Schrecken festgestellt, dass ich inzwischen gute Manieren bei jüngeren Menschen mit sehr viel Wohlwollen registriere. Wenn ein neuer Praktikant sich bei mir vorstellt und dabei Kaugummi kaut, stößt mir das unangenehm auf. Mehr Spießigkeit geht nicht.
Ohnehin sind Praktikanten unerbittliches Zeichen meines fortschreitenden Alterns. Sie sind mittlerweile alle zu einem Zeitpunkt geboren, als ich schon Auto fahren durfte. Sogar schon mehrere Jahre. Vom Alter sind sie näher an meinen Kindern als an mir. Für sie bin ich nicht der ältere Kollege, sondern der großväterliche Vorgesetzte. Wenn einen diese Erkenntnis ereilt, sollte man sich gut im Griff haben. Sonst weint man plötzlich während eines Praktikanten-Vorstellungsgesprächs. Mehr Kontrollverlust geht nicht.
Nun ja, so sinnlos es ist, große Lebenspläne zu entwerfen, so aussichtslos ist es dennoch, sich gegen das Älterwerden zu stemmen. Daher sollte man es mit Würde tun. Insbesondere als Vater sollte man nicht der Versuchung erliegen, sich als besonders cool und lustig zu geben. Das ist nämlich extrem uncool und unlustig. Besonders für die Kinder. Meine Tochter und mein Sohn werden Ihnen das bestätigen.
In diesem Sinne erhebe ich mein Gläschen ‚Doppelherz‘ und trinke auf Bellas Wohl. Genieße die Dreißiger wie die vorherigen und die nachfolgenden Jahrzehnte. Oder um es wieder mit den Rheinländern zu sagen: „Et hätt noch immer jot jejange!“
Mehr Ratschlag geht nicht.
Einfach ein Christian Artikel, wie immer grandios
Danke fürs Lächeln aufs Gesicht zaubern !
Oh ja, er sollte auch den „Ernst“ aus der Sache nehmen. LG und hab einen sonnigen Tag!
Puh, da erkennt man sich ja als Anfang 30jährige schon in vielen Punkten wieder. Dann ist alles gut. Älterwerden tut nicht weh. Aber der magische Punkt, nämmlich der 30. Geburtstag. Das war schon schlimm.
Ich habe ihn ja nun gerad hinter mir und muss sagen: der Wechsel/Geburtstag war nicht das schlimme. Eher dieses „Zeitrasen“, was dadurch deutlich wird. Aber ich freue mich auf das was kommt. LG Bella
Ja, so ist das mit den Plänen rund um feste Stichtage:
Ich erinnere mich noch, dass ich mit 30 unsere drei geplanten Kinder bekommen haben wollte.
Habe ich auch so getan.
Und dann mit knapp 38 doch noch eins bekommen. Plötzlich wollten wir noch eines.
Vor dem 30. hatte ich keinen Respekt. Vor dem 40. aber schon.
Vielleicht mache ich dann auch eine Aktion, die mir ein bisschen den Schiss nimmt – etwas wie so einen schönen Gast-Beitrag ;-)
Liebe Grüße
Saskia
Hi Christian,
Danke auch für diesen Artikel. Ich mag deinen Stil und deinen Humor.
Bella, Glückwunsch zu diesem Gastblogbeitrag!
Euch beiden einen schönen Tag.
Beste Grüße,
Nic