Ich liebe es, Menschen zu beobachten. Was zeichnet sie aus, was ist auffällig, worüber reden sie? Dafür eignet sich eine Fahrt mit der Bahn am besten, denn so viele unterschiedliche Menschen sieht man selten zusammen. Vor allem die Gespräche sind interessant. Schon oft haben sie mich zum Nachdenken angeregt, ob positiv oder negativ. So hörte ich kürzlich zwei Frauen reden. Sie waren vielleicht Ende 50 und sprachen über ihre Kinder, die nun ebenfalls Kinder hatten.
„Also meine Tochter macht mich noch verrückt. Wie sie mit dem Baby umgeht, schlimm. Bei jedem Pieps rennt sie. Liegt die Kleine schlafend im Wagen und gibt einen Mucks von sich, ist sie da und hat sie auf dem Arm. Sie verwöhnt das Kind doch total. Die soll mal schön alleine schlafen lernen.“
„Ach ja, dazu kann ich nichts mehr sagen. Wir haben es früher ja auch so gemacht, das war halt so üblich. Wie oft lag der Große weinend auf dem Balkon, das tat mir so leid. Ganz ehrlich: wenn ich heute nochmal kleine Kinder hätte, würde ich es anders machen. Ich würde sie nicht mehr weinen lassen. Ich finde, mein Sohn macht das genau richtig mit seinen Kindern.“
Wieviel Gewicht hat das Bauchgefühl?
Es war nur ein kurzer Gesprächsfetzen, den ich aufschnappte, eine Momentaufnahme. Aber er brachte mich ins Grübeln. Wäre ich ein mutigerer Mensch, hätte ich die Damen vielleicht angesprochen. Warum hast du deinen Sohn schreien lassen, wenn es dir doch leid tat? Weil es alle so machten und du nicht auffallen wolltest?
Ich frage mich ganz ehrlich, ob gesellschaftliche Konventionen über unserem Bauchgefühl stehen? Wenn alle ihre Kinder autoritär erziehen, sie schreien lassen und starre Grenzen setzen, muss ich das dann auch? Ein bisschen kam mir der typische Satz vieler Eltern in den Sinn: Wenn alle von der Klippe springen, tust du es dann auch? Diese Frau hätte es wohl getan, obwohl sie viel lieber leben wollte. Das erschrickt mich. Hätte diese Dame heutzutage Kinder bekommen, hätte sie sie nach ihrem Bauchgefühl „richtig“ groß werden lassen, ohne Ausgrenzung und mit viel Liebe. Doch warum lassen wir uns so von anderen Eltern beeinflussen?
Zeiten ändern sich, Erziehung auch.
Heute ist eher das Gegenteil der Fall. Niemand möchte offen zugeben, dass er sein weinendes Kind geflissentlich ignorieren kann. Besser ist es. Denn nicht nur mir würde wohl der Mund offen stehen bleiben. Immerhin ist die in der Gesellschaft verbreitete Erziehung heutzutage eine andere. Ist das ein Trend oder echte Überzeugung, die bleibt? Ich hoffe letzteres! Aktuell treffe ich häufiger Menschen, meist Ü50, die noch eine andere Erziehung genossen und sie wohl auch selbst so handhabten. Wahrscheinlich fällt es mir deswegen so auf, denn die Unterschiede und auch Ansichten zu heutsind so gravierend. Oder nicht? Vielleicht bewege ich mich auch nur in einem sehr kuscheligen Umfeld, in dem alle ihren Kinder Geborgenheit und Nähe geben.
Wenn es keine Katja Saalfranks gebe, keine Jesper Juuls und Nora Imlaus. Wenn niemand (über) Geborgen wachsen schreiben würde oder sich so viel über Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten Gedanken machen würde, sähe Erziehung dann heute anders aus? Ich hoffe nicht, denn ich lasse meine Kinder gern geborgen aufwachsen, beziehe sie mit ein und unterdrücke sie nicht. Klar, es wäre alles viel einfacher, wenn ich Trotzphasen und für andere unangebrachte kindliche Ideen mit schroffem Blick, scharfen Worten oder sogar einer erhobenen Hand beenden könnte. Aber mal ehrlich: wie viel trauriger wäre das Leben, wenn meine Kinder nur funktionieren sollten, statt zu leben? Eben.
Liebe Grüße
eure Bella
Ich bin sehr dankbar dafür, dass meine Eltern mich nicht haben schreien lassen. Sie haben mich auch lange Zeit in ihrem Bett schlafen lassen.
Selbst meine Großeltern haben niemals ihr Kind oder Enkelkinder schreien lassen.
Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass mein Opa sie mal richtig geschimpft hat, weil meine Mutter nicht schnell genug auf das Weinen meiner Schwester reagiert hat. Sie könne das Baby doch nicht schreien lassen. Und das von einer Generation, bei der Schreien lassen Gang und Gäbe war.
Leider hat man das nicht sehr oft. :/
Sonnige Grüße.
Und dann immer diese Fragen: „Und, ist sie denn artig?“ Dabei meinen die damit eigentlich, ob das Kind denn funktioniert. Ob es wenig weint. Alleine ein- und durchschläft. Es soll sich verhalten wie ein kleiner Erwachsener.
Ich fühle mich davon sehr unter Druck gesetzt. Denn wenn das Kind nicht wir ein Erwachsener funktioniert, haben die Eltern was falsch gemacht. „Familienbett? Bist du wahnsinnig?“ „Das Kind muss auch mal alleine irgendwo rumliegen.“ „Du stillst noch???“ (14 Monate) „Du stillst auch nachts? Das kann aber kein Hunger sein!“ Es ist ganz fürchterlich. Sowas kommt aber nicht nur von den älteren Semestern. Auch Leute in meinem Alter sind so. Und dann kriegen ausgerechnet solche Leute Babys, die alleine einschlafen und mit 8 Wochen durchschlafen. Und die fühlen sich dadurch bestätigt und denken, dass es an ihnen liegt und dass sie es richtig gemacht haben. Ich könnte manchmal schreiend durch die Gegend laufen.
Das ist früher auch schon ein Unterschied in den Regionen gewesen. Meine Großeltern (tiefster Norden) haben ihre Kinder niemals schreien lasse. Meine Oma ist auch arbeiten gegangen und Opa war teilweise zuhause und hat gekocht und sauber gemacht…
Meine Schwiegereltern (tiefster Westen und gleicher Jahrgang wie meine Großeltern) haben die Kinder Punkt zum 3. Monat nachts in den letzten Raum der Wohnung gestellt und so 3 möchte durchschreihen lassen. Weil Kinder mit 3 Monaten durchschlafen müssen!!
Nee nee, mit Regionen hat es nichts zu tun. Mein Schwiegervater wurde im hohen Norden auch ins dunkle Badezimmer gestellt und durfte sich die Seele aus dem Leib schreien. Meine Freundin und ich sind im gleichen Dorf im Osten aufgewachsen. Meine Eltern haben uns nie schreien lassen und von ihrem Papa wurde ich neulich gefragt, ob wir unsere Kleene denn zu sehr verwöhnt hätten, weil sie am liebsten bei mir ist… vielleicht eher eine Frage der Persönlichkeit? I don’t know. :)