Eine Frage des Blickwinkels: Übers Urteilen und beurteilt werden

1. Juni 2018
familieberlin
Gedanken | Mamasein | Podcast


Auf unserem Flug nach Barcelona vor einigen Wochen erfüllte ich wohl in den Augen Fremder jedes Klischee und erlebte wohl meinen AHA-Moment übers Urteilen und beurteilt werden.

Erst stolpere ich mit zwei Kindern in dieses Flugzeug, remple dank viel Gepäck und lauffauler Einjähriger auf dem Arm die halbe Belegschaft an und sinke dann laut schniefend in meinen Sitz. Ich hatte einen Coffee To Go Becher in der Hand und, wenn es das Kind denn zuließ, ein Handy in der anderen. Ich schuf mir damit meine kleine Rückzugsmöglichkeit in der Mitte vieler Menschen und meiner gut beschäftigten Kinder. In den Augen anderer war ich wohl einfach nur die Mutti, die aufs Handy schaute.

Ein Flug, vor dem es wohl jedem graut: das Kind brüllt

Als es dann ans Starten ging, begann das Schauspiel, wovor wohl jedem kinderlosen Passagier schon beim Einsteigen graute: mein Kind schrie. Es war kein Brüllen, kein Weinen, es war panisches Schreien, um sich Schlagen und tiefe körperliche Abwehr gegen den notwendigen Gurt auf meinem Schoß. Das Kind, was sonst im Flugzeug niemand kennt, war einfach nur unangenehm und hinterließ wohl in jedermanns Kopf einen Stempel. Die Dame vor uns in der Reihe tat mir theoretisch leid, doch ihre Blicke trafen mich so, wie die Füße meiner Tochter ihren Sitz. Ich gab mein Bestes, dass niemand verletzt wurde, allen voran mein Kind.

Und als ich dann mein Telefon zückte, auf dessen Bildschirm mein Kind wie hypnotisiert starte und langsam ruhiger wurde, bestätigte sich wahrscheinlich in vielen Augen das Bild, was sie schon vorab hatten: Die stellt ihr Kind mit dem Handy ruhig. Angesichts des Zustands meiner Tochter und auch meinem war es das Beste. Und wer denkt, sie wurde mit Peppa Wutz und anderen Videos beschäftigt, der irrt. Auf meinem Handy spielte in Endlosschleife ein Video ihrer schlafenden Cousine, die sie über alles liebt. Ein Neugeborenes, das im Schlaf schmatzt, lächelt und seufzt. 27 Sekunden, die über den Rest des Fluges für alle entschieden. 27 Sekunden, die ich immer wieder abspielte, bis das völlig durchgeschwitzte und körperlich kraftlose Kind in meinen Armen einschlief.

Auf welcher Seite stehst du? Eine Frage des Blickwinkels

In meinen Augen war ich beruhigt und auch ein bisschen stolz, dass wir einen Weg aus der Situation gefunden haben. Einen Weg ohne Drohungen, Süßigkeiten-Erpressung und Verletzungen. In den Augen anderer vielleicht auch, ich weiß es nicht. Vielleicht hätten wir nach dem Urteil anderer auch härter durchgreifen sollen, anders handeln oder eben einfach mit dem A*** zu Hause bleiben sollen. Und ich gebe zu, dass man in Stresssituationen vielleicht dazu neigt, die Blicke anderer zu überschätzen, überspitzt wahrnimmt oder eben auch einfach von sich auf andere schließt. Ich wäre auch genervt, wenn ich kinderlos in den Urlaub fliege und solche Mitreisenden habe. Ich wäre auch sauer, wenn von hinten immer jemand gegen meinen Sitz tritt und dabei wie von Dämonen besessen brüllt.

Es ist immer eine Frage des Blickwinkels. Lautere und lachende Kinder finde ich nicht schlimm, im Gegenteil. Habe ich aber mein schlafendes Kind auf dem Arm, was ich im Flugzeug ewig in den Schlaf und aus der Wut begleitet habe, finde ich den lachenden und laut feixenden Jungen zwei Reihen vor mir einfach kacke, unerzogen und fehl am Platz. Wäre er mein Kind, würde ich mich wahrscheinlich freuen, dass er so fröhlich ist und nicht wie das schreiende Kind zwei Reihen hinter mir, was vor Wut das ganze Flugzeug auseinander nimmt. Es ist nicht einfach und erst Recht nicht immer möglich, in schwierigen Situationen den Blickwinkel anderer einzunehmen. Aber vielleicht ist es gerade deswegen wichtig, mit seiner Aufmerksamkeit und Meinung bei sich zu bleiben. Was mache ich gerade? Ist es gut oder schlecht? Kann ich mich beruhigen?

Urteilen und beurteilt werden: eine Gratwanderung

Es ist schwer, dass weiß ich aus Erfahrung. Ich bin sogar der Meinung, es liegt in der Natur des Menschen, denn wie sollten wir sonst in der Steinzeit gefährliche Situationen erkannt haben, wenn nicht auf Basis unseres schnellen Urteils des Außen. Doch es macht uns und anderen das Leben schwer, denn der Urteilende kann schnell zum Verurteilten werden. Mein schreiendes Kind kann schnell zum laut lachenden werdenden, was ein anderes damit weckt. Dabei wäre ich fast ein bisschen froh, wenn die anderen Passagiere diese Seite meiner Tochter hätten sehen können: die Fröhliche, die Wunderbare. Um eben nicht als Kackbratze abgestempelt und verurteilt zu werden, so wie ich es wahrscheinlich auch innerlich mit anderen Kindern getan hätte.

Ich für meinen Teil habe in dieser einen Situation viel gemerkt und gelernt. Es ist immer gut und wichtig, bei sich zu bleiben. Es bringt nichts, anderen eine Meinung zu unterstellen, denn wir wissen es nicht. Genauso vermag ich anderen keine Rolle zusprechen, die ihnen im Zweifel gar nicht zusteht. Was bringt es uns am Ende? Es ist Zeit- und vor allem Kraftverschwendung, andere zu beurteilen oder gar zu verurteilen aufgrund eines kleinen Ausschnitts aus dem Leben dieser. Aufgrund einer Situation im Flugzeug, in der Bahn oder auf der Straße.

Denn vielleicht ist die Mutter auf Platz 27C sonst ganz entspannt und ihre Kinder aufgeweckt und neugierig? Vielleicht ist es für die Familie, die Sonntags ihr Mittag im Fast Food Restaurant isst, eine besondere Ausnahme und keine traurige Regel die auf Einkommen oder Lebensstil schließen lässt? Woher will ich wissen, dass die Mutter, die schon lange Zeit am Spielplatzrand sitzt und in ihr Handy starrt, nicht versucht, ihrem Kind einen lang ersehnten Geburtstagswunsch per Ersteigerung zu erfüllen? Genau, ich weiß es nicht. Es ist einfach, in entspannten Situationen andere zu bewerten und zu urteilen, von sich auf andere zu schließen. Ich nehme mich davon nicht aus. Aber vielleicht erinnere ich mich beim nächsten mal einfach daran, wie es sich anfühlte, aufgrund eines Ausschnitts bewertet zu werden. Dann bleibe ich mit meinen Gedanken lieber bei mir und meinen Kindern. Denn da gehören sie auch hin!

4 Kommentare

  1. Liebe Bella,
    „ Dann bleibe ich mit meinen Gedanken lieber bei mir und meinen Kindern. Denn da gehören sie auch hin!“
    Du sprichst mir aus der Seele. Es ist leicht, über andere zu urteilen. In jedem Urteil steckt auch Abgrenzung. Ein „Ich würde es anders machen“ Gedanke, der einen gegenüber dem Anderen erhebt. Bis diese Menschen selbst einmal in einer Situation sind, die nicht ganz so einfach ist. In Bayern sagt man, „Leben und leben lassen“. Und das trifft es doch ganz gut. Die einzige Situation, in der ich mich wohl doch einmischen würde – dann aber proaktiv und nicht hinter dem Rücken der Person um die es geht – ist wenn dem Kind gegenüber Gewalt angewendet werden würde. In solchen Momenten, wie du einen beschreibst (mir auch schon passiert!) mache ich aber nur eins: ein verständnisvolles, beruhigendes Lächeln schenken.

    Deine Sabine

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    • Danke für deine Worte, genau so sollte es sein. Eben, woher wissen wir, dass wir es eben besser wissen? Ich sehe auch Dinge, die ich anders machen würde. Aber ich kenne weder das Kind noch deren Umfeld. Leben und leben lassen fasst es gut zusammen! <3

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    • Ich versuche auch, ein verständnisvolles Lächeln zu schenken. Das gelingt nur nicht immer. Vielleicht hatte die Dame ja auch einen richtig schlechten Tag hinter sich und bräuchte einfach nur ihre Ruhe. Hat Kopfschmerzen. Ist traurig. Ist wütend. Da kommen schnell mal solche Blicke. Und die kann ich persönlich dann in so einer Situation auch schlecht abstellen. Da kommt dann vielleicht auch ein Seufzer oder ähnliches. Und das obwohl ich ja weiß, wie das so ist und ich gar nicht der Meinung bin, dass das Kind eine Kackbratze ist oder die Mutter unfähig.

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  2. Ein wunderbarer Artikel.
    Ja, manchmal ertappt man sich in Situationen, die man nie erwartet hätte. Schön wenn man dann bei sich bleiben kann. Wir hatten gerade dieses Wochenende die Situation, dass mein Mann per Zufall ein Urteil über unsere Familie gehört hat, das so unglaublich war, dass wir lachen mussten.
    Doch er hatte den Mut, dieser Dame zu sagen, das sie völlig daneben liegt.
    Jeder Mensch geht seinen Weg. Dabei kennen wir nie die Hintergründe. Und legen uns irgendwelche Erklärungen zurecht, die manchmal passen und oft auch überhaupt nicht. Und von Aussen scheint es oft ganz anders, wie es wirklich ist.
    Ein indianisches Sprichwort sagt: Urteile nie über einen anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist.

    Liebe Grüsse Eva

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  1. familieberlin: Über Sichtweisen und Standpunkte - Geborgen Wachsen - […] Jeder Mensch hat seine Wahrnehmung von einer Situation. Und je nachdem, welche Rolle man in einer Situation einnimmt, hat…

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