Podcast #9: Das System Kind

8. Mai 2018
familieberlin
Kleinkind | Podcast

Das Kinder feste Vorstellungen von Dingen haben, ahnte ich schon vor meinen Kindern. Wenn sie eine Banane essen wollen, muss vorher klar sein, ob die Banane als Stück oder in Stückchen serviert werden darf. Belegte Brote dürfen nicht ungefragt zur Klappstulle werden und wenn das Kind abends nur mit dem einen bestimmten Auto zum „Kuscheln“ ins Bett geht, dann darf man davon auch nicht abweichen. Die Vorstellungen, die Kinder prägen, entsprechen einem System. Dem System Kind.

Aktuell habe ich eine besonders ausgeklügelte Version davon. Meine fast zweijährige Tochter hat so feste Vorstellungen vom Essen, Laufen, Spielen, Lesen, Schlafen, dass sie niemand in ihrem System stören darf. So haben wir uns mittlerweile auferlegt, sie komplett allein essen zu lassen. Keine Hilfe, kein Verrücken des Bechers oder Hinlegen von Besteck oder anderem Essen, wenn sie im Programm „Essen“ läuft. Sie ist tief in Gedanken, brabbelt fröhlich vor sich hin und probiert, ob man das auf dem Teller lieber mit einer Gabel oder einem Löffel essen kann, wie es schmeckt oder was passiert, wenn man es zerdrückt. Kann ich wirklich nicht mehr Wasser in den Mund bekommen? Und warum ist der Teller irgendwann leer? Unser System Kind läuft auf Höchstleistung.

Wenn das System abstürzt

Wird es gestört, durch Wischen, Hilfe oder einer nicht gewünschten Bewegung, stürzt es ab – so richtig. Das Betriebssystem setzt aus und es startet binnen Sekunden ein Notfallmodus. Dieser ist laut, unbedarf und vor allem: unberechenbar. Es könnte der Teller mit Tomatensoße gegen die Wand geworfen werden, das Essen in die Haare oder gar in die Danebensitzenden geschmiert werden. All das begleitet von lautem Brüllen, starken Emotionen und dem Ende der Mahlzeit. Vorerst für alle. Wird das System meiner Tochter gestört, geht nichts mehr und niemand darf mehr ungestört essen. Vor allem ich nicht, denn der Notschalter ist wie in so vielen Situationen: die Mama, also ich. Ich nehme sie hoch, halte sie fest, trockne Tränen und starte das Ausweichprogramm im Cool-Down-Modus. Mit ruhigen Worten, Blicken aus dem Fenster und sanften Bewegungen starte ich das System neu und fahre damit mein Kind wieder in den Normalmodus. Das dauert. Das Essen ist für uns beide trotzdem vorbei, egal wie groß der Hunger ist. Sie möchte nicht mehr und ich darf nicht mehr.

Alle in unserer engsten Familie haben das System verstanden, niemand bringt es ins Wanken. Die einzige, die das dürfte, ist die große Schwester. Mit Späßen, Essen teilen oder lustigen Liedern. Unser großes System Familie funkioniert. Doch was, wenn ein betriebsfremdes System dazu kommt, wie Oma oder Opa? Das kann nicht gut werden, denn neben den jahrelangen Erfahrungen, die diese Systeme sammeln durften, sind sie auch oft beratungsresistent. Ein „Lasst das Kind einfach essen“, wird frei interpretiert. Da wird der Becher verschoben, die Gabel mehrmals angereicht, obwohl die Nudeln gerade mit dem Löffel probiert werden oder der Mund ohne Ankündigung abgewischt. Sicher laufende Systeme können damit vielleicht umgehen, doch meine Tochter konzentriert all ihre Sinne in diesem Moment nur aufs Essen. Störfaktoren von anderen führen zum Absturz.

Betriebsneustart mit Mama

Und so sitzen wir regelmäßig bei Besuch, der es im ersten Moment nur gut meint, zusammen am Fenster – sie und ich. Wir sitzen da, schauen den Vögeln beim Essen zu und reden leise miteinander. Die eine sagt immer wieder „Opa, nein nein“ und ich? Ich versuche nicht an meinen Kuchen zu denken und zeige langsam auf die dicke Blaumeise. Wir kommen wieder im gut laufenden Betriebsmodus an und ich merke: es ist schwer, wenn zwei Systeme aufeinander treffen, die sich so wenig verstehen in ihren Abläufen. Der oft all wissende Opa und die stets helfen wollende Oma können sich nicht auf das entdeckende und lernende Kind einlassen. „Aber es ist nun mal besser, wenn sie die Gabel nimmt“, poltert es hier. „Ich wollte doch nur den Milchbart wegmachen“, höre ich es da. Doch woher weißt man, dass die Gabel besser funktioniert? Und was macht es für einen Unterschied, ob der Mund mitten im Essen sauber ist oder von Milch umrahmt?

Jedes System muss erst lernen, was für welche Situation die richtige Entscheidung ist. Try and Error! Nudeln kann man besser mit der Gabel aufpieken. Check. Der Becher sollte nicht am Tischrand stehen. Check. Wenn ich Trauben zerdrücke, kleben meine Hände. Check. All diese Erfahrungen führen doch dazu, dass das Betriebssystem Kind immer größer, immer komplexer wird. Es weiß, warum manches so ist und anderes nicht funktioniert. Nicht, weil es ihm immer jemand vorgibt, sondern weil es die Dinge selbst erfahren durfte.

Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können. Konfuzius

 Auch wir liefen mal im Betriebssystem Kind. Jeder durfte lernen, vielen wurde auch alles vorgegeben. Und am Ende laufen wir alle als Betriebssystem Mensch umher, lernen, helfen und lassen auch mal einfach machen. Vor allem bitte meine Tochter!

2 Kommentare

  1. So wahr, so einfach und für viele doch kaum auszuhalten. Ich finde es so schrecklich, wenn Kinder nicht auch einfach nur in Ruhe gelassen werden können. Diese ständige Ansprache, ewiges Ermahnen und Korrigieren, würde uns wohl mindestens genauso rasend machen. Lasst die Kinder doch einfach in Frieden, so lange sie nichts von uns brauchen !

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    • Es gibt auch genug Menschen, die einfach mal machen lassen. Das ist gut. Und für viele ist es auch ein Prozess, zu lernen, sich wieder auf ein Kind einzulassen. Das musste auch ich erst lernen.

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